by Dr Manfred Hückel

Ethiklehre mit indischem Elefanten

Wir empören uns völlig zurecht über Fehlverhalten von Managern, Politikern oder Sportlern, die unseren Grundwerten widersprechen. Aber wie können wir sichergehen, dass wir selbst nicht unsere Karrieren gefährden, indem wir den „Pfad der Tugend“ verlassen? Und – noch wichtiger – wir können wir unsere Nachfolger davon abhalten? Speziell bei internationalen Tätigkeiten kann man schnell in Situationen geraten, von denen man nicht für möglich gehalten hätte, dass einem selbst einmal so etwas passieren könnte...

In meiner damaligen Rolle als „Global Head of Marketing of Sales“ bei Red Bull verbrachte ich vor einigen Jahren ein paar intensive Arbeitstage mit einem indischen Geschäftspartner in Mumbai. Nachdem wir gemeinsam dutzende von Supermärkten, Lokalen und Lagerhäuser besucht und in unterkühlten Meetingräumen konferiert hatten, machte mir dieser eloquente indische Eigentümer unseres Partnerunternehmens den Vorschlag, ich möchte doch vor dem abendlichen Rückflug bei ihm zu Hause auf einen kleinen „Afternoon-Snack“ vorbeikommen. Er würde sich darum kümmern, dass ich rechtzeitig am Flughafen wäre.

Ich hätte es für unhöflich gehalten, diese Einladung abzulehnen, und eine typisch indische „Nachmittagsjause“ klang durchaus verlockend. Wir fahren also gemeinsam zu seinem Haus, das sich bei näherer Betrachtung als indischer Märchenpalast entpuppt. Wie von Geisterhand bewegt, öffnet sich das eindrucksvolle Eingangstor, und vor mir steht ein waschechter Brahmanen Priester, der mir einen großen Farbpunkt auf die Stirn malt und mir eine Blumenkette umhängt. Ich trete zaghaft ein. Auf mich wartet nicht ein kleiner „Afternoon-Snack“, sondern eine ausgewachsene „Bollywood-Party“, und das mitten am Nachmittag. Zu den groovigen Klängen eines hippen DJs bewegen sich hinreißende Bollywood-Tänzerinnen in sittsamer Anmut, die Tische biegen sich unter dem Gewicht ausgesuchter indischer Spezialitäten, und die korrekt livrierten Kellner offerieren für diese Uhrzeit überraschend Hochprozentiges. Bevor ich mein heruntergeklapptes Unterkiefer wieder unter Kontrolle bekomme, werde ich zu einem spektakulären Ehrenstuhl geführt, der mich heute an die „Game of Thrones“-Serie erinnert, und die Krone-artige Kopfbedeckung, die mir aufgesetzt wird, verstärkt diesen Eindruck auch noch.

Ich bin Hauptdarsteller in einem Film, dessen Drehbuch ich nicht kenne. Die elegante Cousine meines Geschäftspartners spielt dabei die Rolle, mir die besten Bissen des unerschöpflichen Buffets auf meinen Teller zu legen. Gleichzeitig werde ich mehrfach mit Bestimmtheit darauf hingewiesen, dass es jetzt zum guten Ton gehörte, mit jedem Familienmitglied einen „Wodka Shot“ zu trinken. Hilfe, wo ist er denn jetzt, der Brahmanen Priester? Stattdessen steht eine freundlich lächelnde Schlange von Familienmitgliedern bereit, deren Anzahl mich leicht überfordert. Die wohlwollend nickenden Eltern des Hauses schaffe ich dabei mit Leichtigkeit, und auch die Brüder und Schwester meines Geschäftspartners bereiten mir noch keine größeren Probleme. Irgendwann zwischen den Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades fällt mir dann schon die Unterscheidung schwer, wen ich schon getränkemäßig „abgehakt“ habe und wer vielleicht schon zu einer zweiten Runde antritt. Ich bin einfach „geflasht“ von den optischen, musikalischen und sonstigen Eindrücken, die mehr und mehr meine Sinne benebeln, aber mit etwas Glück rette ich mich vom Nachmittag in die Dunkelheit des anbrechenden Abends. Als Höhepunkt der „kleinen Nachmittagsjause“ steht noch ein Feuerwerk auf dem Programm, dessen Feuerkraft es mit einer Silvesternacht in Wien aufnehmen kann. Und hier tritt auch der Brahmanen Priester nochmals in Erscheinung, indem er mein Handgelenk über das der eleganten Cousine legt, ein buntes Band darüber ausbreitet und ein paar Worte murmelt. Kurz schießt mir siedend heiß der Gedanke ein, ob mir gerade eine Zweitfrau angetraut worden ist, dann würde ich daheim nämlich ordentlich Probleme bekommen. Danach beginnt aber auch schon ein herzliches Verabschiedungszeremoniell mithilfe von unzähligen Verbeugungen, natürlich mit sittsam vor dem Herzen gefalteten Händen.

Im Flugzeug nach Europa wache ich einige Zeit später mit einem fröhlich-beschwingten Gefühl auf. Routinemäßig kontrolliere ich die wichtigsten Reisebegleiter: Pass, Handy, Portemonnaie, alles da. Die Krone habe ich nicht mehr auf, die Blumenkette trage ich aber schon noch, und der Punkt auf der Stirn ist auch sicher noch drauf. Allerdings finde ich in meinem Jackett einen Umschlag, der dort nicht hingehört. Er enthält ein Schreiben des indischen Geschäftspartners, in dem er sich für unsere bisherige und zukünftige fruchtbare Zusammenarbeit bedankt und hofft, ich hätte den kleinen „Afternoon-Snack“ in seinem bescheidenen Zuhause genossen, hehehe. Er wolle mir noch den tiefst empfundenen Respekt und die höchste Wertschätzung seiner gesamten Familie zum Ausdruck bringen und mich höflich darauf hinweisen, dass sie sich erlaubt hätten, für mich einen zweiten Koffer mit einem kleinen Geschenk einzuchecken. Wie? Was? Einen zweiten Koffer für mich einchecken, geht das in Indien? Na, da bin ich aber gespannt. Ein paar Stunden später stehe ich am heimatlichen Flughafen neben dem Rollband, welches zuerst meine eigene Reisetasche ausspuckt und dann auch noch den mir beschriebenen weiteren kleinen Koffer, der meinen Namen trägt.

Ich hebe ihn vorsichtig herunter und bin zunächst überrascht von seinem enormen Gewicht. Immer noch mit dem Punkt auf meiner Stirn, der leicht ramponierten Blumenkette um den Hals und mit dem zerknitterten Sakko über dem Arm, in dem ich die Party und den Flug verbracht habe, schiebe ich die beiden Koffer am Zoll vorbei ins Freie. Offenbar müssen mich die beschwörenden Worte des Brahmanen unsichtbar gemacht haben, denn ich werde von den freundlichen Zollbeamten nicht aufgehalten. Von selber wäre ich in meinem übermüdeten Zustand nicht im Entferntesten auf die Idee gekommen, dass in dem Koffer etwas sein könnte, wofür sich der Zoll interessierte. Irgendwie schade, denn ich hätte ja eine ungewöhnliche Geschichte zu erzählen gehabt.

Zu Hause angekommen, beichte ich gleich mal die gesamte Geschichte meiner verständnisvollen Ehefrau - inklusive des Teils mit der Cousine. Sie wäre ohnehin irgendwie draufgekommen, sie kommt immer auf alles drauf. Gemeinsam machen wir gespannt den schweren Koffer auf – und mittlerweile plagt mich der Gedanke, ich könnte ungewollt zum Drogenkurier geworden sein, man weiß ja nie. Nein, es findet sich nichts Illegales in dem Koffer, sondern ein wunderschön bemalter indischer Elefant aus Stein. Er lacht uns in all seiner Weisheit und Güte an, und es dürfte auch ein bisschen Schadenfreude dabei sein. Wir verlieben uns sofort beide in seine Anmut – und er wandert zunächst einmal auf die Kommode unseres Schlafzimmers.

Nachdem ich endlich eine wohltuende Nacht in meinem eigenen Bett verbracht und auch den Punkt auf meiner Stirn abgewaschen habe, beginnt bei mir endlich die Frage zu dämmern, ob ich das Behalten dieses Elefanten mit meinen eigenen ethischen Grundsätzen vereinbaren kann. Für ein Zollvergehen ist er wohl nicht wertvoll genug, aber was ist mit dem Thema „Geschenkannahme“?

Mein erster Arbeitgeber, die Konsumgüterfirma Procter&Gamble, hatte mir eine wohltuende „Zero-Tolerance Policy“ mit auf den Berufsweg gegeben, wonach man nicht einmal das kleinste Geschenk annehmen durfte – samt dazugehöriger einwandfreier Begründung. Schließlich gibt es auch gesetzliche Rahmenbedingungen dafür, die allerdings von Land zu Land stark abweichen. Trotz des Abschlusses zweier Studien war dies das erste Mal, das ich mich mit einer ethischen Fragestellung in der Geschäftswelt beschäftigt habe. Dankbar nahm ich diesen ethischen Kompass als Jungmanager an.

Nachdem ich im Jahr 1994 dem Ruf einer inneren Stimme zu Red Bull gefolgt war, wo man mit den ersten internationalen Expansionsschritten so beschäftigt war, dass es noch keine Zeit für interne Regeln zum Thema Geschenkannahme gab, hatte ich meine ehrenvollen Procter&Gamble Prinzipien mit übernommen, bis ich damit zum ersten Mal so richtig an die Wand fuhr. Denn ein hochgeschätzter osteuropäische Geschäftspartner empfand sich als so respektlos behandelt, als ich ihm sein teures Montblanc Kugelschreiber Geschenk zurückschickte, dass ich mir eine neue ethisch korrekte Selbstbegrenzung einfallen lassen musste. Ab diesem Tag machte ich potentiellen Geschenkeverteilern klar, dass ich mich über ein persönlich ausgesuchtes Buch oder Musik freuen würde, alles andere könnte ich nicht annehmen. Damit kam ich fast zwei Jahrzehnte gut über die Runden – bis zum indischen Elefanten.

Mein Problem mit dem indischen Elefanten führt mich als nächstes zu meinem Chef, Dietrich Mateschitz. Nachdem ich ihm den Großteil der Geschichte erzählt habe – den Teil mit den „Wodka Shots“ lasse ich aus, weil ich nicht besonders stolz darauf bin – frage ich ihn, ob ich den Elefanten zurückschicken soll. Sein Rat lautet, das solle ich selbst entscheiden. Ihm ist nur wichtig, dass ich auch weiterhin die richtigen Geschäftsentscheidungen für Indien treffe und mich dadurch nicht beeinflussen lasse.

Das Thema „Geschenkannahme“ als ethische Grundsatzfrage lässt sich herrlich mit Studenten diskutieren, am besten im Anschluss an eine Case Study in der es darum geht, wie weit man selbst für einen Geschäftserfolg gehen würde. Ich hatte bisher Gelegenheit, mit über tausend Studenten aus aller Welt an der HHL in Leipzig, der HSG in St. Gallen (CH), oder der WU in Wien dieses Thema zu besprechen - und mich mit meiner „Elefantenstory“ bei ihnen schon auch zu blamieren. Aus diesen Begegnungen habe ich in – wie ich glaube – signifikanter Klarheit festgestellt, dass es eine Eigenschaft unter den Studenten gibt, die ihre Einstellung zu ethischen Themen wie „Geschenkannahme“ beeinflusst. Es ist nicht das Geschlecht und schon gar nicht die Herkunft, sondern es ist das Alter der Studenten!

Bei den älteren, teils schon berufserfahrenen MBA Studenten überwiegt die Meinung, man könne ruhig den Elefanten behalten. Wichtig ist, dass er einen nicht bei der richtigen Geschäftsentscheidung beeinflusst, wie auch mein Chef schon sagte. Diese Studenten kann ich damit beruhigen, dass ich einige Zeit nach dem „Afternoon-Snack“ die Entscheidung mitgetragen habe, die Zusammenarbeit mit unserem Geschäftspartner in Indien zu beenden. Nicht, weil wir mit seiner Arbeit unzufrieden waren, sondern einfach, weil es betriebswirtschaftlich mehr Sinn machte, mehrere hundert eigene Red Bull Mitarbeiter in Indien anzustellen, die für Marketing und Vertrieb in ganz Indien verantwortlich sein würden.

Je jünger die Studenten meiner Lehrveranstaltungen sind, desto öfter ergibt sich nach unseren Diskussionen eine Mehrheit dafür, den Elefanten aus prinzipiellen Gründen zurückzuschicken. Die jüngeren Studenten von Bachelor Studiengängen kommen deutlich öfter zu dieser Einsicht als die Master Studenten. Noch jünger sind die Schüler der St. Gilgen International School in der Nähe von Salzburg in Österreich, wenn ich sie im Rahmen eines Verhandlungstechnikkurses – basierend auf den Prinzipien des „Harvard Program on Negotiation“ - mit dem Fall des indischen Elefanten konfrontiere. Sie gehen mit weniger Voreingenommenheit an ethische Fragen heran als die berufserfahrenen MBA Studenten. Viele sind noch auf der Suche nach ihrem eigenen „ideologischen Kompass“, und sie sind empfänglicher für wohlmeinende Aufforderungen, wie man seinen eigenen positiven Beitrag in dieser Welt leisten könnte.

Damit zu meiner Beantwortung der Fragestellungen zu Beginn dieses Artikels: Wie können wir sichergehen, dass wir selbst nicht unsere Karrieren gefährden, indem wir den „Pfad der Tugend“ verlassen? Wir sollten uns spätestens zu Beginn unseres Berufswegs unsere eigenen ethischen Grundregeln auferlegen. Denn später wird es immer schwerer, den Versuchungen zu widerstehen.

Und unsere Nachfolger? Idealerweise sollten sie in den letzten Schuljahren in den Genuss von verpflichtendem Ethikunterricht kommen. An der St. Gilgen International School wird
Ethik im Rahmen eines individuellen Mentoren Programms sehr ernstgenommen und regelmäßig bei fächerübergreifenden Themen miteinbezogen. Besonders beeindruckt hat mich beispielsweise, als Lehrer mit ihren Schülern eine Nacht im Schulhof verbrachten, um das Schicksal von Flüchtlingsfamilien besser nachvollziehen zu können, bevor sie darüber im Unterricht diskutierten. Jeder durfte für diese Nacht nur so viel mitnehmen, wie er oder sie tragen konnte - auch wenn dann die eine oder andere Playstation dabei war...

Aber auch an den Wirtschaftsuniversitäten darf das Thema Ethik in der Geschäftswelt nicht fehlen. Ich lege für meinen Teil in jeder Leadership Lehrveranstaltung Wert darauf, dass die Studenten zumindest ein Rollenspiel zu diesem Thema absolvieren. Margaret Neale, Professor für Management an der Stanford University, hat mir einmal erzählt, dass die Verbrechensrate auf dem Universitätscampus zurückging, nachdem für neue Studenten ein Verhandlungstechnikkurs verpflichtend wurde – unter Einbeziehung ethischer Fragen.

Tagtäglich erfahren wir in den Medien von Politikern, Geschäftsleuten und leider auch von Sportlern, denen ein solcher Ethikunterricht sichtlich gutgetan hätte. Aufgrund meiner Erfahrungen als internationaler Manager, Schulbetreiber und Universitätsdozent halte ich einen intensiven Denkanstoß mithilfe eines einmaligen, für alle verpflichtenden Ethikkurses für zielführend. Und die Zeit vor oder knapp nach dem Abitur ist aus meiner Sicht dafür die beste! Denn jetzt können sich die jungen Leute auf ethische Prinzipien festlegen, die sie hoffentlich durch ihr ganzes Leben begleiten, und die sogar dann halten sollen, wenn sie der wirtschaftliche Druck einer Familiengründung und eines Existenzaufbaus in Versuchung führen wird.

Ob ich den indischen Elefanten behalten habe? Gerade jetzt schaut er mich mit seinen weisen, wissenden Augen an. Wahrscheinlich hätte ich ihn zurückgeben sollen. Aber er hat mich in vielen späteren Fällen inspiriert, das Richtige zu tun.

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